Heimat und Welt 98/1930 (11.12.1930), Seite 779/782:
Dr. Ernst Bußmann:
Niederdeutsche Bräuche in den Zwölften

Die Zeit des Jahres, wo die Sonne am tiefsten stand, die zwölf Nächte zwischen dem heutigen Weihnachtsfest und Neujahr, wo die Natur sich unter ihre weiße Schlafdecke legte, um sich zu neuem Schaffen zu stärken, galt unseren Vorfahren als eine heilige Zeit. Die Sonne hüllte sich in dichte Schleier, früh schon brach die dunkle Nacht herein; in den hohen Eichen, die den Hof umstanden, heulte der Sturm und zauste die welken Blätter. Der Winterwald erdröhnte vom Krachen und Stöhnen der Bäume, prasselnd stürzten Aeste und uralte Bäume zur Erde.

Dann sammelte der Hausvater beim Schein des Kienspans die Seinen um den Herd, und die Kinder hingen sich auf seine Knie und lauschten, wenn er erzählte: „Hört ihr das Brausen da draußen? Da hält Wodan, der Windgott, der wütende Jäger, der ruhelose Wanderer, an der Spitze des Seelenheeres mit Fria, seiner Gemahlin, und den anderen Göttern und Geistern seinen Umzug. Der Totengott führt die Seelen der Abgeschiedenen durch die Lüfte.“

Die Arbeit der Ernte war getan, das Vieh wurde geschlachtet, und man hatte Zeit und Mittel genug, um Opfer und Opferschmäuse zu veranstalten; man feierte das Julfest. Dieses höchste Fest der Germanen dauerte die ganzen zwölf Tage und Nächte hindurch und leitete zugleich auch das kommende Neujahr ein. Die abgeschiedenen Seelen nahmen teil an den Festmahlen: an Kreuzwegen und anderen heiligen Stätten wurde ihnen die Tafel bereitet. Geisterbanner und Wahrsagerinnen aber zwangen die Toten, Kunde zu geben von dem, was sie im fernen Lande und in der Zukunft erschauten.

Durch ganz Deutschland hindurch kann man noch heute die letzten Reste dieses Glaubens und Kults unserer Vorfahren verfolgen, und das Christentum hat es bis heute nicht vermocht, den alten Glauben und die ehrwürdigen Bräuche dieser Zeit ganz auszurotten.

Auch heute noch sind die Zwölften auf dem Lande die rechte Zeit für Zauber und Geister aller Art. Der Name Wodan ist freilich verschwunden, mußte ihn doch schon in altgermanischer Zeit jeder Neugetaufte feierlich abschwören und wagte deshalb kein noch so treu am Alten Hängender, ihn je wieder auszusprechen; aber deutlich ist noch die alte Gestalt des Geisterführers unter dem neuen Namen wiederzuerkennen. Wenn die Geister ihre Feste feiern, so muß nach altem Glauben auch der Mensch von der Arbeit ruhen. Man darf nicht dreschen, backen, waschen oder spinnen, alles Drehende, Runde muß ebenso still stehen, wie das ruhende Sonnenrad. Man darf keinen Dünger aufs Feld fahren, keine Mühle und kein Spinnrad drehen, keinen Teller scheuern. Alle Türen muß man dicht verschließen, sonst stürmt die wilde Jagd durchs Haus und läßt einen Hund zurück, der das ganze Jahr nicht mehr vom Herde weicht. wer draußen die wilde Jagd über sich hinwegbrausen hört, darf sie gar nicht anrufen, sondern soll sich schnell zu Boden werfen.

Vorwitz und Unvorsichtigkeit sind schon manchem übel bekommen. Der zurückgebliebene Hund muß bis zu den nächsten Zwölften gefüttert werden, fahrende Karren und Wagen stürzt der wilde Jäger um, in den Flachs, der auf den Wocken bleibt, kommen Erdflöhe, Frau Holle (Frias Nachfolgerin) zerzaust ihn, oder Wode verunreinigt Spinnerin und Flachs mit Pferdemist.

Weil die Geister unterwegs sind, ist es Zeit, mit ihrer Hilfe einen Blick in die Zukunft zu tun. Sehr verbreitet war die Vorhersage des Wetters nach dem sogenannten Zwiebelkalender. Eine Zwiebel wird in zwölf Teile geschnitten, und auf jedes der einem bestimmten Monat zugeteilten Stücke Salz gestreut. Wird ein Stück besonders naß, so bedeutet das einen regnerischen, andernfalls einen trockenen Monat. Das Wetter der zwölf Tage entspricht dem der Monate des nächsten Jahres und wird deshalb sorgfältig aufgeschrieben.

Die günstigste Zeit aber, etwas über die Zukunft zu erfahren, ist die Mitte der Zwölften, Silvesterabend und Neujahrsnacht. Will ein Mädchen den Zukünftigen sehen, so stellt es sich in dieser Nacht vor das Ofenloch und schaut gebückt zwischen den Beinen hindurch. Durch Bleigießen oder Werfen von Apfelschalen erfährt sie den Anfangsbuchstaben seines Namens. Will sie sehen, wie es mit den Heiratsaussichten im nächsten Jahr bestellt ist, so wirft sie einen Schuh mit dem Fuß über den Kopf, Schaut die Spitze des Schuhs nach der Tür, dann kommt das Mädchen im nächsten Jahre aus dem Hause, d. h. sie heiratet, zeigt dagegen die Spitze ins Zimmer, dann bleibt die Schöne im kommenden Jahre noch daheim. In diesen und mannigfach abweichenden Formen hat sich die Befragung des Orakels bis heute erhalten. Das Bleigießen ist sogar zum städtischen Gesellschaftsspiel geworden.

Auch in anderer Beziehung bildet die Silvesternacht den Höhepunkt der Zwölften. Das alte Jahr wird lärmend vertrieben, „dat olle Jaor wegscheiten“, nennt man es. Ursprünglich hat dieser Brauch wohl einen anderen Sinn gehabt. Man wollte die unheimlichen Gäste des Geisterreiches, die gerade jetzt leicht Schaden anrichten konnten, verscheuchen. Junge Burschen tobten mit Peitschengeknall, Hörnergetute, Kettenrasseln und höllischem Getöse durch die Straßen, überall wird das neue Jahr angeschossen, angeblasen, angesungen und angewünscht.

Weil die „Zeit zwischen den Jahren“, die Uebergangszeit, entscheidend ist für das ganze folgende Jahr, darum muß man in dieser Zeit, und besonders zur Jahreswende selbst, gut und reichlich leben, damit man im kommenden Jahr keinen Mangel leide. Ueberall werden deshalb am letzten Abend des Jahres gesellige Zusammenkünfte in den Wirtshäusern oder in den Bauernschaften auf einem bestimmten Hof abgehalten. Dann wird ausgiebig gefeiert; besonders Kartenspielen gilt als glücksbringend. Die Wirte verabreichen ihren Gästen einen Freitrunk oder altüberlieferten Imbiß. Das Neujahrsgebäck sind die beliebten Iserkauken, und mit großem Stolze zeigt man noch heute in alteingesessenen Familien schöne ererbte Waffeleisen vor.

Um zwölf Uhr steigt man auf die Stühle und Tische und springt mit dem Glockenschlage ins neue Jahr hinein. Häufig wird eine als altes Weib verkleidete Strohpuppe, das alte Jahr darstellend, durchs Dorf getragen und um zwölf Uhr ins Wasser geworfen, ein schönes, unbescholtenes Mädchen aber, mit goldener Krone und schneeweißem Mantel angetan, wird zur Neujahrskönigin gekrönt.

Der heute noch nicht ausgestorbene Umzug der heiligen drei Könige zwischen Neuhjahr und dem 6. Januar, vor allem aber an dem letztgenannten Tage, scheint auf den ersten Blick durchaus christlichen Ursprungs zu sein. Drei Knaben mit angeklebten Wergbärten und geschwärzten Gesichtern, in überzogenen Hemden und mit Papierkronen auf dem Kopf und einem goldenen Stern oder einer Laterne auf einem Stock ziehen durch das Dorf und erbitten kleine Gaben. Wenn man aber hört, daß im Sauerlande einer von ihnen zum Dank mit einem Besen alles Unglück aus dem Hause fegt, oder an das Anschreiben der Anfangsbuchstaben C(aspar) - M(elchior) - B(althasar) an Stall- und Haustür denkt, so wird der Zusammenhang mit dem altheidnischen Geister- und Hexenglauben deutlich.

Und wenn St. Nikolaus, dem man doch sicher nichts Heidnisches nachsagen kann, auf einem Schimmel reitet, so ist das eine alte Erinnerung an Wodan, dem das Pferd geweiht war.

Im Nikolaus- und Weihnachtsgebäck, besonders im sogenannten Spekulatius (ein Wort, das aus den Niederlanden zu uns gekommen ist und von speculator = Bischof, also Nikolaus stammen soll) finden sich altheidnische Erinnerungen. In Teilen Hollands und Ostfrieslands stellen die Figuren noch häufig Schweine, Abbilder des altgermanischen Julebers, des Haupttieres des Julfestes dar. Außerdem erscheint noch heute die Nikolausgestalt häufig auf einem Pferde oder einem Hahne (dem Sinnbild der Fruchtbarkeit) reitend. Vor allen Dingen kennen wir aber ein paar Kirchenverbote aus dem frühen Mittelalter, Götzenbilder aus geweihtem Mehl zu backen, die sich offenbar auf das genannte Gebäck beziehen.

Der Christbrand, ein großer Holzblock, der am Weihnachtsabend an den Herd geschleppt wurde und der zur Erneuerung des Herdfeuers für das nächste Jahr diente, ist heute in unserer Heimat wohl ausgestorben. Er ist das Sinnbild der Neugeburt von Licht und Wärme, und deshalb versuchte man ihn das ganze Jahr hindurch glimmen zu lassen, so daß er erst zum nächsten Neujahr ganz verkohlt war. Auch hier ist der Geister- und Verschwörungsglaube unter der christlichen Decke noch deutlich zu erkennen.

So könnte man noch an manchem anderen Beispiel das Fortleben altheidnischen Glaubens im halbchristlichen Gewande in der Zeit der Zwölften nachweisen und zeigen, wie geschickt die Kirche es meistens verstanden hat, die alten heidnischen Sitten mit neuen christlichen Vorstellungen zu erfüllen, ohne daß freilich Inhalt und Form immer übereinstimmen.


Quelle:
„Heimat und Welt / Blätter zur Pflege des Heimatgedankens“, Heft 98/1930 (11.12.1930), Seite 779 / 782
Fundort: Stadtarchiv Bernau bei Berlin