Die Geschichte vom Posträuber Lenz
Eine Bluttat vor 150 Jahren /
Der Überfall auf der Landstraße Berlin-Oranienburg und seine Sühne
Alten Urkunden und Überlieferungen nacherzählt von Hermann Bender

Kaum drei Jahre waren seit dem Tode des großen Königs ins Land gegangen, als eines Morgens gewaltige Aufregung in dem sonst so stillen Städtchen Oranienburg herrschte. Gegen 9 Uhr war nämlich die Kunde in die Stadt gelangt, daß ein furchtbares Verbrechen geschehen war. An der Landstraße nach Berlin hatte man den Postillon einer am vergangenen Abend von Oranienburg nach Berlin abgegangenen Post ermordet aufgefunden. Man munkelte auch, daß mehrere Geldfässer geraubt worden seien, doch näheres war vorerst nicht zu erfahren.

Während die aus ihrer Ruhe aufgescheuchten Bürger noch gruppenweise in den Straßen und vor den Häusern beisammenstanden und das blutige Ereignis besprachen, wurde eine Anordnung des Bürgermeisters Borrmann bekanntgegeben, die die Erregung bis zum Siedepunkt trieb: Die gesamte Bürgerschaft mußte sich noch am gleichen Vormittag zu einer "Visitation" vor den Stadtverordneten - wir würden heute sagen "Bezirksvorstehern" - einfinden und es wurde mir größter Genauigkeit festgestellt, wo jeder Hausgenosse die letzte Nacht verbracht hatte. Auch die in der Mordnacht in der Oranienburger Gegend anwesenden Soldaten, die hier ihren Urlaub verbrachten, wurden ausnahmslos vernommen. Man vergaß ferner nicht, unter den Arbeitern, die am Ruppiner Kanal beschäftigt waren, strenge Umfrage nach verdächtigen Beobachtungen zu halten.

Wenn jedoch jemand gedacht hätte, daß nach Abschluß dieser Maßnahmen Ruhe in die verwirrte und überraschte Bürgerschaft kommen würde, so hatte er sich gründlich geirrt. Justizbürgermeister Brohm - der über die Oranienburger Polizei gebietende Beamte . erließ Anweisung, daß sofort die weitere Umgebung der Stadt nach Berlin zu abgesucht und alle Wege nach Mecklenburg hin schärfstens überwacht würden. So ergoß sich denn, teils aus Neugier und Sensationslust, teils aber auch, um zur Aufklärung des schrecklichen Verbrechens beizutragen, ein breiter Strom eiliger Menschen aus der Stadt heraus und strebte zu Fuß wie zu Wagen schnellstens der Mordstelle zu, die sich dem Vernehmen nach zwischen Birkenwerder und Hohen Neuendorf befinden sollte.

Als mit einbrechender Dunkelheit die Einwohner erschöpft in die Stadt zurückkehrten, brachten sie den Heimgebliebenen bereits genaue Kunde über die Bluttat mit nach Hause.

So hörte man denn, daß am Vortage um 11 Uhr nachts eine Post mit Beiwagen von der Oranienburger Posthalterei in der Havelstraße nach Berlin abgegangen war. Sie wurde geführt von dem Postillon Ludwig Wegener, dem zweiten Sohn des Bäckermeisters Ludwig W. aus Oranienburg; als Schirrmeister begleitete der Postassistent Harnack die eigentliche "Diligence" (Postkutsche), die in dieser Nacht keine Fahrgäste hatte. Den hinter der Kutsche fahrenden Beiwagen lenkte der jüngere Bruder des Postillons, Wilhelm Wegener aus Oranienburg. Auf diesem Wagen befanden sich acht Fässer gemünzten Goldes, Steuergelder, die für Berlin bestimmt waren.

Wie alles gekommen war, wird wohl niemals geklärt werden, denn die drei, die in jener lauen Juninacht mit dem Postwagen Oranienburg verließen, wurden am nächsten Morgen als Opfer eines wohlbedachten Raubüberfalls an der Landstraße dicht hinter Birkenwerder von vorüberkommenden Bauern gefunden, und die späteren Geständnisse des Mörders waren so widerspruchsvoll und zum Teil unglaubwürdig, daß der eigentliche Hergang wohl immer in geheimnisvolles Dunkel gehüllt bleiben wird. Der einzige, der lebend aufgefunden wurde, war der jüngere Wegener, der sich noch in einen etwas abseits liegenden Graben hatte schleppen können. Er wurde von dem Berliner Generalchirurgen Göricke sofort operiert und sachgemäß verbunden, erlag aber trotzdem wenige Tage später, in der Nacht zum 17. Juni seinen schweren Verletzungen, ohne vorher soweit das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, um Angaben über die Person des Mörders machen zu können.

Die ersten Untersuchungen am Tatort, für die das Justizamt Bötzow bei Velten zuständig war, ergaben wenig Anhaltspunkte für die Fahndung nach den Tätern - denn mit mehreren rechnete man zunächst. Lediglich auf dem Beiwagen - beide Fahrzeuge waren von den friedlich grasenden Pferden etwas abseits in die Heide gezogen worden, - fand man ein Schlächtermesser und einen "Hagedornstock" (Kräftiger Wanderstecken aus Weißdorn). Zu denken gab die Verschiedenartigkeit der Verletzungen, die der den Beiwagen fahrende jüngere Wegener einerseits und der Postillon und Schirrmeister andererseits aufwiesen. Während nach dem Protokoll des Bürgermeisters Borrmann vom 14. Juni dem jüngeren Wegener die Hirnschale zertrümmert war, so daß das Gehirn bloßlag, er also offensichtlich durch einen heimtückischen Hieb mit einem schweren stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden war, hatte der Mörder die beiden anderen scheinbar erst nach schwerem Kampfe töten können. Der Postillon bot nach dem Protokoll "einen so entsetzlichen Anblick, daß es kaum auszusprechen ist. Durch Messerstiche war er am ganzen Körper furchtbar zugerichtet, das Gesicht war kreuzweis zerschnitten, der Hals bis auf das Genick durchschnitten. Der Schirrmeister war noch übler zugerichtet als der Postillon."

Aus diesen wenigen Anhaltspunkten, die die erste Untersuchung ergab und die durch die späteren Geständnisse des Mörders nicht wesentlich ergänzt wurden, gewann man folgendes Bild des Überfalls:

Die beiden Wagen fuhren hintereinander gemächlich ihres Weges und hatten ein tüchtiges Stück hinter sich gebracht. Die Eintönigkeit der nächtlichen Fahrt hatte die Begleitmannschaft schläfrig und daher wenig aufmerksam gegenüber ihrer Umgebung gemacht. So war es dem den Transport erwartenden Täter gelungen, unbemerkt den zuletzt fahrenden Beiwagen von hinten zu erklettern und den ahnungslos auf seinem Platz sitzenden Fahrer durch einen wuchtigen Hieb mit einem vorher aufgelesenen Feldstein niederzustrecken. Vielleicht wollte er ihn auch zunächst gar nicht töten, sondern nur betäuben. Den bewußtlos in sich Zusammensinkenden warf er in den Graben und lenkte den Wagen vom Wege ab, um an einer etwas mehr abgelegenen Stelle die Goldfässer zu vergraben und die Pferde mit dem herrenlosen Wagen dann davonzujagen. Er muß bei Ausführung dieses Planes sich wohl darauf verlassen haben, daß Postillon und Schirrmeister des Hauptwagens von dem Geschehen in ihrem Rücken einstweilen nichts bemerken und daher ruhig weiterfahren würden. In dieser Annahme muß er sich aber doch getäuscht haben. Das Zurückbleiben des Beiwagens scheint sehr bald bemerkt worden zu sein, und einer der beiden Begleiter des Hauptwagens ist anscheinend das Stück Weges zu Fuß zurückgegangen, um nach der Ursache der Verzögerung zu sehen, während der andere bei der Kutsche zurückblieb. Am Tatort muß sich dann ein heftiger Kampf abgespielt haben, in dem der Mörder, nachdem er seinem Opfer ungezählte Messerstiche beigebracht hatte, Sieger blieb. Dem bei der Postkutsche Wartenden wurde allmählich die Zeit zu lang, und er machte sich gleichfalls auf, um zum Beiwagen zurückzugehen. Es ereilte ihn dann das gleiche Geschick wie kurz zuvor seinen Kameraden.

Nur diese Erklärung - es gibt viele abweichende Darstellungen - läßt es verständlich erscheinen, daß ein einziger Mensch drei kräftige Männer umbringen konnte, ohne, wie sich später herausstellte, selbst irgendwelche Verletzungen davonzutragen.

Nach Ausführung dieses grauenhaften dreifachen Mordes machte sich der Mörder, nunmehr ungestört an das Ausladen und Vergraben der Geldfässer. 4000 Täler des geraubten Goldes fand man gleich am nächsten Tage an verschiedenen Stellen in einer nahegelegenen Forst vergraben.

Über die Person des Täters wußte man einstweilen so gut wie nichts. Lediglich das am Tatort gefundene Schlächtermesser konnte vielleicht Rückschlüsse auf die Berufszugehörigkeit des Mörders zulassen. Die Untersuchung war an einem toten Punkt angelangt.

Da kam einige Tage später eine dem Justizbürgermeister Brohm von einem Oranienburger Knecht gemachte Aussage dem Fortgang der Ermittlungen sehr zustatten. Dieser Knecht erstattete am 16. Juni, wie Ballhorn in seiner Geschichte Oranienburgs mitteilt, Anzeige, daß der Schlächtergeselle Johann Christian Lenz, der seit drei Jahren im Kreuzbruch wohne und sich vom Viehhandel nähre, ihn vor drei Wochen, als er den Beiwagen gefahren habe, begleitet und dabei gefragt habe, ob Geld auf dem Postwagen ist. Er sagte weiter aus, daß er später auf dem Beiwagen einen Koffer halb losgeschnitten vorgefunden und den Lenz für den Täter gehalten habe.

Diese bedeutsame Aussage erwies sich sehr bald als der Schlüssel zur Aufklärung des Verbrechens. Brohm, der sich überhaupt um die Klärung des Falles sehr verdient gemacht und dafür am 22. Januar des folgenden Jahres ein Belobigungsschreiben des Generalpostamtes in Berlin erhalten hat, konnte weiter feststellen, daß Lenz an dem fraglichen Abend vor Abgang des Geldtransportes in der Nähe der Posthalterei beobachtet worden war. Einem Knecht gegenüber, der aussagte, Lenz am 13. abends gegen 11 Uhr auf dem Wege nach Havelhausen getroffen zu haben, hatte dieser im Gespräch Angaben über sein beabsichtigtes Nachtquartier gemacht, die sich bei der sofort vorgenommenen Nachprüfung als unzutreffend erwiesen. Es wurde weiter ermittelt, daß Lenz am nächsten Morgen gegen 6 Uhr, und zwar schweißtriefend, zum zweiten Male Havelhausen berührt hatte. Man konnte auch feststellen, daß der durch all diese Aussagen bereits schwer belastete Schlächtergeselle am Morgen nach der Mordtat mit Oranienburger Einwohnern im Vehlefanzer Krug gesessen hatte und dann gemeinsam mit diesen gemeinsam nach Kremmen gefahren war. Auf Grund dieser Indizien wurde gegen Lenz, den Sohn eines Oranienburger Schlächtermeisters, ein Steckbrief erlassen, in dem alle Bürgermeistereien und Schulzenämter der Gegend zu größter Wachsamkeit aufgefordert wurden und Anweisung erhielten, den Lenz bei seinem etwaigen Auftauchen sofort festzunehmen. Auch der Ort, an dem der Mörder die Geldfässer vergraben hatte, wurde einer unauffälligen Überwachung unterworfen.

Der Mörder aber war und blieb einstweilen verschwunden, und die Öffentlichkeit, die den Fall leidenschaftlich immer wieder und in immer neuen Abwandlungen erörtert hatte, begann sich allmählich zu beruhigen und ihre Aufmerksamkeit neuen Ereignissen zuzuwenden. Über zwei Monate waren seit der nächtlichen Mordtat verstrichen, als es eines Tages überraschenderweise in Groß-Schönebeck gelang, den Mörder, der an die Mordstelle zurückkehren wollte, um sich von dem verscharrten Gelde zu holen, festzunehmen und am 18. August nach Berlin abzuliefern. Ein beurlaubter Soldat, der Sohn des Dorfschulzen, erkannte den Lenz, als er in der Schenke bei einem Trunk saß, holte unauffällig zwei stämmige Bauern, und die drei nahmen den sich heftig sträubenden dann mit vereinten Kräften gefangen, wodurch sie sich die nicht unerhebliche, für die Ergreifung des Täters ausgesetzte Belohnung verdienten.

Der Prozeß, den man dem Oranienburger Schlächtergesellen in Berlin machte, brachte keine Überraschungen. Nach anfänglichem Leugnen gestand der Angeklagte die Tat ein, widerrief sein Geständnis dann wieder, machte neue Angaben, schilderte den Verlauf der Mordtat wieder anders, so daß die Untersuchungs- und Verhandlungsakten erheblich anschwollen. Eine eingehende Behandlung des Prozeßverlaufes würde heute ein nur noch begrenztes Interesse finden.

Zu erwähnen wäre höchstens, daß man sogar einen Lokaltermin an der Mordstelle abhielt. Mit Stricken schwer gefesselt wurde der Mörder auf einem Leiterwagen an Ort und Stelle gebracht, wo er den Hergang der Tat erläutern und vor allem die Verstecke der noch nicht gefundenen Geldfässer zeigen sollte; einige Fässer wurden tatsächlich gefunden, während andere noch heute in der Heide vergraben liegen sollen. Wahrscheinlicher ist, daß sie später einmal von Unberufenen gefunden worden sind, die den Fund nicht ablieferten, sondern für sich behielten.

Wie nicht anders zu erwarten, wurde auf Todesstrafe erkannt. Am 19. Januar 1790 fand auf dem Gendarmenmarkt in Berlin unter gewaltiger Beteiligung der Bevölkerung die öffentliche Hinrichtung statt. Auf dem ganzen Wege vom Gerichtsgefängnis bis zum Richtplatz staute sich die Menge, die von den Absperrmannschaften nur mit Mühe im Zaum gehalten werden konnte. Lenz wurde "von unten auf" gerädert, eine besonders grausame und erst nach Stunden zum Tode führende Art der Hinrichtung. Von der damals schon allgemein gebräuchlichen Milderung der "Strangulation" - d. h. der Delinquent wurde, bevor man ihn aufs Rad flocht und ihm ein Glied nach dem anderen brach, erhängt - wurde in diesem Falle abgesehen, um ein besonders abschreckendes Beispiel aufzustellen.

Die Geschichte vom Posträuber Lenz war mit der Hinrichtung des Mörders keinesfalls abgeschlossen, sondern wurde Jahrzehnte hindurch mit immer neuen Ausschmückungen versehen von Mund zu Mund weitergetragen. Moritatensänger bemächtigten sich des dankbaren Stoffes, und in Zeitschriften konnte man noch bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gelegentlich die verwegensten Geschichten und Gedichte vom Leben und Sterben des Oranienburger Posträubers antreffen.


Quelle: Kalender 1936 für den Kreis Niederbarnim, (Herausgegeben 1935), Seite 30-33
Herausgeber: Kreisausschuß des Kreises Niederbarnim
Druck und Kommissionsverlag: Wilhelm Möller GmbH, Oranienburg b. Berlin