Während des zweiten Weltkrieges hatten wir hier in Mehrow eine größere Zahl an französischen Kriegsgefangenen. Im Gegensatz zu Kriegsgefangenen aus anderen Ländern, insbesondere gegenüber denen aus der ehemaligen Sowjetunion, genossen die Franzosen und Belgier überall im Land viel mehr Freiheiten und eine bessere Behandlung. Die Franzosen waren gemeinsam in der sogenannten Schnitterkaserne (Dorfstraße 19) untergebracht und zur Arbeit auf die Bauernhöfe und Siedlerstellen im Dorf verteilt. Es waren wohl meist zwei oder drei Mann auf jedem Gehöft beschäftigt. Über die Unterbringung und Bewachung der Kriegsgefangenen erfahren wir etwas aus der Feldpost, die ein hier stationierter Wehrmachtsangehöriger (Gefreiter Hans Luishahn) nach Hause geschickt hat, über den Einsatz auf den Höfen berichtet u.a. Elke Böhm (geb. Husfeldt), die ihre Kindheit hier in Mehrow verbracht hat. Bei allen Berichten wird beteuert, dass die Franzosen gut behandelt wurden und trotz eines strikten Verbotes am Leben der Familien, bei denen sie beschäftigt waren, teilhaben durften. Erfreulicherweise haben wir das auch von einem Betroffenen bzw. seiner Witwe bestätigt bekommen: Felix Carpentier, der als Kriegsgefangener hier in Mehrow bei der Familie Diederich beschäftigt war und vorzeitig in seine Heimat entlassen wurde, hat sich nach seiner Rückkehr in einem Brief für seine gute Behandlung bedankt und seine Witwe hat uns wissen lassen, dass er sich immer lobend über seine Zeit in Mehrow geäußert hat.
Aus diesem Brief wissen wir seine Adresse und auch den Namen eines seiner Kameraden.


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Felix Carpentier stammt aus Nort-Leulinghem und sein Kamerad Paul Mesmacque aus dem nur wenige Kilometer entfernten Nortbécourt. Beide Orte liegen in der Nähe von Saint-Omer in der Region "Nord-Pas-de-Calais".
Das hat man doch schon mal gehört?
Ja, natürlich, dorthin wurde in dem grandiosen Film "Willkommen bei den Sch'tis" der Postbeamte strafversetzt, der bei seiner Bewerbung um die Versetzung ans Mittelmeer geschummelt hat. Im Film sind alle Vorurteile gegen den Sch'tis zusammengetragen, unter anderem, dass sie nicht zu verstehen sind und dass ihr Land hinterm Polarkreis liegt.

Auf einer Frankreichreise ergab es sich, dort mal für ein paar Tage Stopp zu machen. Und da das Wetter in diesen Tagen tatsächlich ziemlich nordisch war, bot es sich an, ein bisschen durch die Gegend zu fahren und mal zu schauen, ob man die Wohnorte "unserer" Franzosen findet und vielleicht sogar deren Gräber entdeckt.

Autobahnen sind im Urlaub tabu, also geht es auf der D943, die von Calais an der Küste nach Saint-Omer im Landesinneren führt, bis zur Kreuzung mit der D221 und ist schon fast am Ziel: Die Wegweiser dort verweisen schon auf beide Orte, die dicht hintereinander an jener Straße liegen.

Nach Überqueren der Autobahn steht man schon am Ortseingangsschild von Nort-Leulinghem, das noch ein ganzes Stück kleiner ist als Mehrow. Lt. Wikipedia hat der Ort 201 Einwohner (Stand: 2006), das sind immerhin ein paar mehr als bei unserer letzten Abfrage, da waren es noch 177 (1996) - zum Vergleich: Mehrow hat knapp 500.
Und tatsächlich fallen einem ein paar neue Häuser auf und neu entstandene Gewerbe­betriebe. Es zieht also offenbar nicht alle ans Mittelmeer!

Um ins Zentrum des Ortes zu gelangen, muss man bei der nächsten Gelegenheit von der Hauptstraße rechts abbiegen. Dann fährt man direkt auf die Kirche zu - kaum anders zu vermuten, wenn die Straße "Kirchstraße" (Rue de l'Eglise) heißt. Dort gabelt sich die Straße, links geht es zum Wald (Rue de la Forét) und rechts zum Rathaus (Rue de la Mairie) - da brauchen wir nicht hin, denn es ist Feiertag.
Wir sind aber schon am Ziel, denn wie in fast allen Dörfern hier befindet sich der Friedhof rings um die Kirche.

Die Kirche sieht ein bisschen eigenwillig aus. Turm und Kirchenschiff sehen zusammen wie eine ganz normale, kleine Dorfkirche aus - nur dass eine Seite verputzt und die andere verklinkert ist. Dieser Bau passt aber überhaupt nicht zu dem riesigen Chor, der sich anschließt. Der scheint von einer anderen Kirche zu stammen, denn auch der Baustil ist ganz anders. Die Kirche St. André stammt lt. Wikipedia aus dem 16. Jahrhundert, mehr verrät auch die Webseite des Touristen-Büros nicht.

Direkt an der Kirche, gleich gegenüber dem Kirchturm findet sich auch das, was wir suchen: das Familiengrab der Carpentiers. Da in Frankreich die Gräber oft nur den Familiennamen des Mannes und den Geburtsnamen der Frau tragen, ist es (wie wir noch sehen werden) mitunter schwierig, das Grab eines Verstorbenen zu finden, wenn man nicht weiß, wie die Schwiegereltern hießen. In diesem Fall ist es zweifelsfrei, denn aus dem vor Jahren geführten Schriftwechsel mit dem Bürgermeister von Nort-Leulinghem wissen wir, dass er mit Marie Louise Courtin verheiratet war und dass die bereits verstorbene Tochter Francine hieß.


Hier liegt nun einer, der eine Zeitlang unfreiwillig in Mehrow war, aber trotzdem gut auf unseren Ort zu sprechen war. Er hätte uns eine Menge erzählen können.

Viele Soldaten der letzten Kriege hatten nicht das Glück, heil nach Hause zu kommen und dort die letzte Ruhe zu finden. Davon erzählen nicht nur die riesigen Kriegsgräberstätten in dieser Gegend, sondern auch die Soldatengräber auf den Dorffriedhöfen wie diesem hier.

Ein Schild am Eingang kündigt schon an, dass man hier auf Kriegsgräber des Commonwealth trifft. Auf diesem Friedhof sind es die Gräber eines Zivilangestellten des York & Lancaster Regiments und eines "Rifleman" C. Cox, die beide im Januar 1916 hier ihr Leben gelassen haben. Dass deren Gräber sich inmitten der Gräber der Dorfbevölkerung befinden, soll deren Verbundenheit dokumentieren.

Auf der Weiterfahrt nach Mentque Nortbécourt trifft man auf freiem Feld auf einen Gedenkstein für die aus jenem Doppelort stammenden Gefallenen der beiden Weltkriege:
A la mémoire glorieuse
des enfants de Mentque Norbécourt
morts pour la France.
(Der Ortsname ist tatsächlich anders geschrieben als auf dem nach­folgenden Ortsschild, hier "Norbécourt", dort "Nortbécourt".)

Dass auf einer nachträglich angebrachten Tafel auch der später in Nord-Afrika gefallenen (und auf vielen Denkmälern auch der in Indochina gebliebenen) Soldaten gedacht wird, stimmt nachdenklich. Aber wenn man nur der Opfer unverschuldeter Kriege gedenken dürfte, dann dürfte es bei uns ja gar keine "Kriegerdenkmäler" geben.


Wenn man Mentque passiert hat und auf Nortbécourt, die zweite Hälfte des Doppel­ortes zufährt, grüßt einem schon von weitem der Kirchturm, der über die Dächer der Häuser hinausragt. Umgeben von einem kleinen Friedhof steht die Kirche längs der Hauptstraße, die hier "Rue Principale" heißt. Die Dörfer Mentque und Nortbécourt haben sich lt. Wikipedia bereits 1819 zu einer Kommune zusammengeschlossen.
Die Einwohnerzahl der Kommune beträgt 530 (Stand: 2006).

Auch hier sieht die Kirche aus, als wär' der Chor nachträglich angebaut worden, in diesem Fall aber an der Turmseite, was dem Ganzen ein recht ungewohntes Aussehen verleiht: Der Kirchturm steht nun mitten im Gotteshaus.

Erfreulicherweise steht hier die Tür offen, so dass man mal einen Blick in das interessante Bauwerk werfen kann. Der Turmraum, durch den man eintritt, hat große Öffnungen zum Kirchenschiff und zum Chor hin, so dass die im Kirchenschiff Sitzenden zumindest theoretisch den Altar im Chorraum sehen können. Das Kirchenschiff kann aber auch durch einen Vorhang abgeschlossen werden. Für diesen Fall gibt es beidseits des Durchbruchs je einen reich verzierten Altar. Die Kombination aus dunkelbraun gebeiztem und weiß lackiertem Holz hinterlässt einen sehr feierlichen Eindruck.

Auch hier trifft man wieder auf ein Kriegsgrab mit einem Stein, wie man ihn auf manchen Kriegsgräberstätten zu Tausenden findet. Auch hier handelt es sich um das Grab eines Zivilangestellten des Yorkshire-Regiments, einen J.W. Agar, der am 30. August 1915 gestorben ist. An der Küste von Pas-de-Calais war seinerzeit der Brücken­kopf der Alliierten mit großen Versorgungsstützpunkten, Lazaretts usw. Da waren auch viele tausend Zivilangestellte beschäftigt, von denen eine große Zahl ihr Leben ließ.

Aber was wir eigentlich suchen, ist nicht zu finden: Das Grab von Paul Mesmacque, dem aus Nortbécourt stammenden Kameraden von Felix Carpentier, der vermutlich hier bestattet ist. Es finden sich zwar einige Grabsteine der Familie "Mesmacque", aber keiner passt zu unserem "Paul", dessen Alter wir aber nur schätzen können, da wir von ihm leider gar keine persönlichen Daten haben. Das Grab rechts könnte die künftige Grabstätte einer noch lebenden Tochter sein, aber wir wollen da keine Spekulation betreiben.

An anderer Stelle auf dem Friedhof findet sich ein uraltes Familiengrab der Mesmacque´s mit Sterbedaten tief im 19. Jahrhundert. Die Familie ist hier also schon lange angesessen. Gleich daneben, direkt am Friedhofseingang ist ein Grab mit der Aufschrift "Souilleux - Mesmacque", aber die Reihenfolge der Namen deutet darauf hin, dass hier eine Frau aus der Familie liegt. Ein Grab, das man Paul Mesmacque zuordnen könnte, ist leider nicht zu finden.

Das Rathaus des Ortes ist gleich nebenan, aber es ist wie gesagt "Feiertag" - Pfingstmontag, da haben die Behörden, Schulen, Kindergärten usw. zu, nur die Mehrzahl der Leute in der freien Wirtschaft muss zugunsten der Pflegeversicherung arbeiten ... Also, im Rathaus wäre heute keine Auskunft zu bekommen und das erspart uns Sprachunkundigen den stammelnden Vortrag, was wir wissen wollen. Das Schild am Tor enthält aber wenigstens eine Email-Adresse, da kann man ja mal schriftlich versuchen, noch was 'rauszubekommen. Vielleicht verschlägt es uns nochmal hierher.
Wir nehmen erst mal Abschied mit der Befriedigung, der einst in Mehrow gefangen gehaltenen Soldaten so gut als möglich gedacht zu haben.